Von Rehen, Heidschnucken, Wildschweinen und mehr – vor allem Schmerzen


Triathleten sind bekanntermaßen ein beklopptes Volk. Allein die Tatsache, dass wir drei Sportarten kombinieren, die für sich genommen schon recht anspruchsvoll sind, bringt viele außenstehende zum Kopfschütteln. Oft erfährt der Triathlet ehrliche Hochachtung ob seiner Leistung. Dabei ist es egal über welche Distanz es geht. Das Triathleten Herausforderungen suchen ist ja kein Geheimnis, auch nicht, dass diese in der Regel in den Sportarten zu finden sind, die er ohnehin beherrscht. Ob Langstreckenschwimmen im Freiwasser, Ultramarathon oder Radmarathon. Mir geht es da nicht viel anders. Nach Wakenitzman und Fichkona-Radmarathon fehlt auf meiner Liste noch der Ultramarathon. Am letzten Augustwochenende habe ich mich der vermeintlich harmloseren Variante des Ultramarathons gestellt. Einer 100km langen Wanderung durch die Lüneburger Heide. Alles ohne Streckenbeschilderung, Streckenposten oder Verpflegungsstellen. Geschweige denn, neumodischen Kram wie GPS, auch nicht im Handy oder Smartphone. Old School mit Karten ist angesagt.


Am Freitagabend treffen sich sechs leidenswillige in einer Wirtschaft in Handeloh um nach einer, vorerst, letzten warmen Mahlzeit die 100km Wanderwege von Handeloh, durch die Lüneburger Heide, bis Reinstorf, bei Bad Bodenteich, in Angriff zu nehmen. Die Gruppe teilt sich schon am Start. Gegen 21 Uhr brechen mein Wandergeselle und ich auf. Ich habe gemischte Gefühle.

Nach wenigen Metern biegen wir vom Asphalt in den ersten, von vielen Waldabschnitten ab. Noch fällt das letzte Dämmerlicht durch die Bäume auf unseren Weg. Wälder und Felder, wie Wiesen und Weiden wechseln sich ab. Rehe wechseln vor uns die Seiten. Nach gut zwei Stunden ist es wirklich dunkel und wir gehen bei aufklarendem Himmel durch den Wald bei Undeloh. Ich spüre, wie die Dunkelheit die Last des Alltages aus mir saugt und meine Gedanken klarer werden. Mein Wandergeselle, mit reichlich Erfahrung - auch auf dieser Strecke, hält mit vielen Geschichten aus vergangenen Tagen die Stimmung hoch. So erreichen wir gut gelaunt und ohne Umwege gegen halb zwölf, bei sternenklarem Himmel den Totengrund bei Wilsede. Hier gibt es die erste ausgiebigere Rast. Wir essen eine Kleinigkeit und ruhen uns ein wenig aus. Leider liegt der Totengrund komplett im Dunkel. Neumond ist gerade vorbei und der Mond ist ohnehin schon untergegangen.

Unser Weg führt uns weiter Richtung A7, die wir bei Volkwardingen unterlaufen. Damit ist das erste Teilziel erreicht. Nach dem Ort biegen wir Richtung Osten in den Wald ab und verpassen unseren nächsten Abzweig. Frei nach des Wandergesellen-Motto: "Vorwärts immer - rückwärts nimmer" entscheiden wir, uns querfeldein durch den Wald zu schlagen. Wenige hundert Meter vor uns sollten Bahngleise sein, die uns wieder auf den richtigen Weg bringen. Gegen halb zwei kämpfen wir uns also durch das Unterholz. Und tatsächlich gelangen wir nach wenigen Minuten auf eine Bahnstrecke die uns nach zweihundert Metern an die Straße bringt, welche uns dann zu unserem nächsten Waldweg führt. Da wir jetzt wieder wissen wo wir sind und wie es weitergehen wird, beschließen wir uns ein Lager für die Nacht zu suchen und werden gegen zwei Uhr auch fündig. Eine große, kräftige Buche soll uns für den Rest der Nacht als Schutz dienen.

Nach einer kurzen Nacht, die Uhr zeigt 6:30 Uhr früh, gibt es eine sehr kleine Morgenwäsche und einen Becher Tee. Eichhörnchen machen sich lautstark bemerkbar und springen schimpfend von Baum zu Baum. Ein kurzer Funktionstest meines Körpers ergibt: Keine nennenswerten Mängel oder Einschränkungen. Wir stopfen unsere Schlafsäcke in die Beutel und packen die Rucksäcke. Eine kurze Orientierung auf der Karte und gegen sieben Uhr geht es los. Nach einer halben Stunde erreichen wir Steinbeck. Hier hat der "Schlacht-Bäcker-Zeitungs-Getränke-Markt" schon Betrieb und wir halten zum kleinen Frühstück mit Kaffee und Mettbrötchen an. Frisch gestärkt und mit aufgefülltem Wasservorrat geht es dann auch zügig weiter. Wir haben noch 75km vor uns. Wo sich die andere Gruppe befindet können wir nur raten. Da die Jungs nicht bei dem Schlachter waren könnten sie hinter uns sein. Oder sie sind in der Nacht länger gelaufen und sind vor uns. Da es lediglich ums "Ankommen" geht, machen wir uns nur wenig Gedanken, aber ein kleiner Wettkampf ist es doch irgendwie. Die Vierergruppe besteht aus 20-jährigen Jungspunden und die sind zusammen etwa genauso alt wie wir zwei. Das spornt an.

Jetzt liegt einer der weniger schönen Abschnitte vor uns: Der Truppenübungsplatz Munster. 10km geradeaus bis zum verlassenen Lopau. Dort hat sich eine Gruppe Pfadfinder im Haus der Waldjugend eingefunden und wir können Wasser auffüllen und erfahren, dass die vier Jungspunde nur ein paar Minuten vor uns unterwegs sind. Trotzdem machen wir eine kleine Pause und verpflegen uns. Anschließend geht es weiter am Rand des Truppenübungsplatzes Richtung Süden. Durch die schöne Natur mit Rehen, Hasen und kreisenden Greifvögeln.

Gegen halb zwei haben wir über 30km vom Tagwerk geschafft und machen eine große Mittagspause. Eine Stunde sitzen wir im Wald essen, trinken und beobachten eine emsige Waldmaus, die sich völlig unbeeindruckt bis auf einen Meter an uns ran traut. Über die Hälfte der Gesamtstrecke liegt hinter uns und wir ziehen ein erstes Fazit. Barfuß erkennen wir, dass die Füße zwar leiden, aber noch keine größeren Blessuren zu sehen sind. Auch die Beine sind noch recht frisch. Wir fühlen uns, nach Stulle, Nüssen, Banane und einigen Stücken Wildschweinsalami, frisch und stark genug jetzt auch den Rest zu schaffen. Zudem kommt immer wieder die Sonne durch. Also brechen wir auf.

Nach einem Kilometer streifen wir durch die Ellerndorfer Heide. Hier ist Hochbetrieb. Auf beinahe jeder Bank sitzen Spaziergänger und genießen den Blick in die blühende Heide und auf die springenden Heidschnucken. Wir erreichen die Scheune am anderen Ende der Heide und füllen unsere Wasservorräte auf. Dann ziehen wir weiter über Ellerndorf nach Eimke. Als wir auf die B71 treffen fällt unser Blick auf zwei Gestalten, die gut 200m von uns entfernt an der Bushaltestelle am Randstein sitzen und mit Karten hantieren. Wir pfeifen in ihre Richtung, weil wir uns sicher sind, dass es zwei von den Jungspunden sind. Die sind jedoch so vertieft, dass sie nicht reagieren. Wir gehen weiter und sind davon überzeugt, dass die beiden aufgeben. Wo die zwei anderen stecken wissen wir nicht. Eimke liegt hinter uns und wir haben einen 6km langen Asphaltabschnitt bis Dreilingen vor uns. Bisher hatten mir die Asphaltstrecken keine Schwierigkeiten gemacht. Doch jetzt fangen die Füße tatsächlich langsam an zu brennen.

In Dreilingen haben wir gut 70km zurückgelegt und machen eine weitere Pause. Jetzt wird es wirklich langsam schwer. Es ist 17Uhr und wir stellen fest, dass die Füße nicht nur brennen, sondern sich die ersten Scheuer- und Druckstellen deutlich abzeichnen. Außerdem brennen die Druckstellen vom Rucksack, der zwar nach dem reduzieren vom Proviant, immer leichter werden müsste, doch eher den Eindruck vermittelt an Gewicht zu gewinnen. Um uns rum wird es nass. Während der Pause hat es angefangen zu regnen. Wir sitzen zwar noch trocken unter einer Eiche, müssen aber langsam los machen, weil wir ja wie uns die Schilder der Radwanderwege verheißen, noch 20km bis Bokel haben und dann noch 7km bis zum Ziel.

Im Regen stiefeln wir durch Felder auf den Forst bei Räber zu. Der Regen wird schwächer, nimmt wieder zu um dann wieder abzunehmen. Die immer kühler werdende Luft, der Regen und der wolkenverhangene Himmel machen unser einsetzendes Leid nicht erträglicher. Wir erreichen Räber und ich erkenne sofort den Streckenverlauf vom Einzelzeitfahren in Olmsruh. Das müsste jetzt auch bald stattfinden. Ob die wissen was sich hier Tage zuvor für Leid abspielt? Wohl nicht. Der Regen wird weniger und wir haben einen weiteren, diesmal 2km langen Asphaltabschnitt bis Hösseringen vor uns. Nachdem wir nun weitere 10km geschafft haben, kommen wir gegen 20 Uhr an eine Gastwirtschaft. Wir entschließen uns die nächste Pause im trockenen, bei Suppe und Tee, zu verbringen. Während dieser Pause schaltet mein Körper das erste Mal auf Feierabendmodus. Ich merke, dass ich jetzt nur noch auf Reserve fahre und muss zusehen, dass ich wieder auf den Weg komme. Wir brechen also gegen halb neun wieder auf. Diesmal brauche ich nicht nur ein paar hundert Meter um in meinen Rhythmus zu finden. Es dauert gut zwei oder drei Kilometer. Die einsetzende Dunkelheit und der anhaltende Regen machen es nicht einfacher.

Es sind noch 17km bis zum Ziel. Dort weiß man, dass wir kommen werden und hält die Suppe und das Badehaus auf Temperatur. Auch wenn wir inzwischen unglaublich nah am Hof sind scheint der doch so ewig weit weg. Wir stapfen durch die Dunkelheit in den nächsten Waldabschnitt. Vor uns liegen 5km finsterer Forstweg der uns von 80m üNN auf 120m üNN bringen soll. Der stetig ansteigende Weg ist so uneben, dass wir im Wechsel stolpern oder in Pfützen stapfen. Die Druckstelle unter meinem rechten Fuß macht mir ernsthaft zu schaffen und das Allgemeinbefinden ist vergleichbar mit den letzten 5km eines schnellen Marathons bei 30°C im Schatten. Nur mit dem Unterschied, dass dieser Zustand schon vor ein paar Stunden eingesetzt hat und noch weitere drei Stunden anhalten wird. Meine Muskeln fühlen sich allerdings deutlich besser an als bei einem Marathon. In der Dunkelheit sind meine Augen kurz vor dem zufallen. Ich schließe sie bewusst und öffne sie nach wenigen Schritten wieder bewusst. So halte ich die Kontrolle über meinen Körper und Geist. Ich versuche jeden einzelnen Finger und Zeh zu kontrollieren. Ich muss mich beschäftigen. Wenn ich jetzt stolpere und hinfalle, bleibe ich liegen. Meinem Begleiter geht es ähnlich. Er ist allerdings schon vor ein paar Stunden auf der Leidensstufe gewesen, die ich jetzt erreiche.

Der Wald nimmt kein Ende. Wir sind uns sicher, dass wir längst die B4 hören müssten. Oder ein paar Scheinwerfer durch den Wald scheinen müssten. Ein Blick auf die Uhr sagt, dass die letzte Stunde nur 30 Minuten gedauert hat. Wir sind entsetzt und werfen einen Blick auf die Karte. Die sagt, dass es noch einen Kilometer asphaltierten Weg gibt bevor wir an die Straße kommen. Wir sind noch auf Sand und Schotter unterwegs. So eine Scheiße!!

Endlich ist die B4 in Sicht. Wir ziehen das Tempo nochmal an und kommen an die Straße. Eine Tankstelle!!! Wie geil! "24h geöffnet" steht an der Preistafel. Snickers, Mars und Co. wir kommen! Dann die herbe Enttäuschung. 24h tanken? Ja! Shop? NEIN! Frust macht sich breit und wir lassen uns beim Griechen nebenan, der auch gerade schließt, auf den Plastikstühlen nieder und vernichten die letzten zwei Energieriegel. Wir können noch einmal Wasser fassen und melden uns auf dem Hof. Es sind noch 12km und die Uhr zeigt 22Uhr. Die Hofmannschaft bestärkt uns per SMS durchzuhalten es ist nicht mehr weit. IHR SCHAFFT DAS! Nach einer, ziemlich schweigsamen, halben Stunde Pause meldet sich die Hofmannschaft und rät uns ein Taxi zu nehmen. Bei denen setzt starker Regen ein. Bei uns ist es, zumindest von oben, trocken und wir hören und sehen nichts von Gewitter aus Richtung Ziel. Taxi ist keine Option. Wir brechen auf.

Nach ein paar Metern Straße sind wir wieder im Wald. Dunkelheit und aufgeweichter Boden machen es uns nicht leicht voran zu kommen, aber der Weg ist um einiges besser als der letzte. Plötzlich ein Grunzen und Stampfen keine 20 Meter links von uns. Ein Wildschwein! Hat es den verwursteten Artgenossen in meinem Rucksack gewittert? Wir fangen an zu klatschen. Die nächsten 500m immer wieder rascheln und stampfen neben uns. Dann ist es weg. Unsere Hände sind jetzt, vom langen klatschen, gut durchblutet und wir sind wieder ein wenig wacher. Nur ein paar Meter weiter, wieder scharren und stampfen im Unterholz. Aber leichter als vorher. Wahrscheinlich Rehe. Wir machen uns trotzdem durch klatschen bemerkbar und gehen weiter. Diesmal sind es nur ein paar Meter und es ist wieder Ruhe im Wald. Ein Blick auf die Uhr verrät uns, dass die letzte Stunde wieder nur 30 Minuten lang war. Es ist unglaublich, aber wir scheinen auf der Stelle zu gehen.

Endlich sehen wir vor uns ein Licht. Gut es ist bestimmt noch einen Kilometer weg, aber es kündigt den letzten Halt vor dem Ziel in Reinstorf an. Bokel liegt vor uns und wir können, motiviert durch die nächste Pause, noch einen Zahn zulegen. In Bokel machen wir auf der Dorfwiese halt und suchen vor dem, wieder einsetzenden, Regen Schutz an einem überdachten Tisch. Es ist jetzt kurz vor elf und es liegt nur noch die Schlussetappe vor uns. Wir müssen uns jetzt entscheiden: Entweder gehen wir den etwas längeren Weg durch den Wald. Unsere Füße würde es freuen. Oder die letzten 7km auf der Straße. Wir wollen nur noch ankommen und entscheiden uns für die schnellere und kürzere Strecke. Auch wenn unsere Füße lieber Waldboden hätten, ab auf die Straße und mit strammen Schritten Richtung Ziel. Jetzt macht sich doch Euphorie breit und überstrahlt die brennenden Füße. Uns wird klar: Wir werden die 100km per Pedes beenden!

Die letzte Etappe geht erstaunlich gut. Beflügelt von dem Gedanken etwas ganz besonderes geschafft zu haben und, mit einem Bier in der Hand, bald in eine Wanne voll warmem Wasser zu gleiten, halten wir ein hohes Tempo. Ich muss kurz nochmal anhalten um zu pinkeln und schicke meinen Begleiter weiter. Um ihn wieder einzuholen setze ich zu einem leichten Trab an und stelle mit Erstaunen fest, dass das fast besser geht als gehen. Es regnet immer noch. Und der Wald, durch den die Straße führt, scheint endlos zu sein. Doch der Blick auf die Uhr zeigt, dass die letzte halbe Stunde tatsächlich 30 Minuten hatte. Das Zeit-Strecken-Tempogefühl ist zurück und ich fühle mich wie auf den letzten 200m eines Marathons. Endlich ist der Wald zu Ende und wir können das Licht am Eingang des Hofes erkennen. Gut, es sind immer noch 1500m. Aber was ist das gegen die zurückgelegte Strecke. Wir sind unfassbar glücklich und feiern uns schon auf den letzten 500m vor dem Tor.

Nach etwas über 27 Stunden erreichen wir den Hof und die Hofmannschaft sitzt, wie angekündigt, geschlossen draußen. Mit Gitarre und Gesang haben sie sich bei einigen Bierchen bei Laune gehalten, begrüßen uns herzlich und umsorgen uns. Wir gehen ins Badehaus und legen uns in die eingeheizten Wannen, bekommen Linsensuppe und Kartoffelbrei, sowie ausreichend Bier an unsere Badestatt. Die Jungspunde sind auch schon da. Allerdings haben die ersten zwei tatsächlich in Eimke aufgegeben und sind zum Hof gefahren. Die anderen beiden haben sich in Suderburg, also gut 20km vor dem Ziel, entschlossen die Wanderung zu beenden. Das lässt den Triumph noch größer werden. Wir genießen die Wanne und das Essen und fallen dann gegen zwei Uhr selig in einen tiefen und erholsamen Schlaf.

Was für eine Strapaze und welch ein Gefühl der Glückseligkeit!          (Thilo J.)